In jenen Tagen der Wandlung schien es ihr manchmal, als hinge sie wie ein Ballon an einem Faden. Der Faden wurde von etwas auf der Erde festgehalten, aber er konnte auch losgelassen werden, und dann würde sie haltlos davontreiben.
Zum Glück waren diese Phasen nur kurz, aber dafür sehr heftig. Und alles, was sie geistig übermäßig forderte und stresste, beförderte sie wieder in die Luft. Auch sich Sorgen zu machen war gar nicht gut, weil sie dann schnell jeden Halt verlor.
Am einem Tag, wo sie sich wieder sehr haltlos fühlte, war es plötzlich als würde ihr Körper zu ihr sprechen. Sie hielt inne und spürte in ihre Brust hinein. Sie merkte, wie sie ein und aus atmete.
Ihre Wahrnehmung ging Richtung Wirbelsäule und da fühlte sie sich plötzlich wie in einem Aufzug – als führe ein Teil ihres Bewusstseins entlang des Rückgrats hinunter Richtung Erde.
Und als sie der Erde nahe war, spürte sie die große Kraft und Ruhe, die von ihr ausging und wurde selbst ganz ruhig. Oh, war das ein Wohlgefühl!
Die nächsten Tage probierte sie weiter damit herum. Wenn sie im Garten stand, über den Rasen ging und die Sträucher und Knospen begutachtete, stellte sie sich wieder vor, im Aufzug die Wirbelsäule hinunter zur Erde zu fahren. Und da spürte sie plötzlich alles noch intensiver:
Die Energie der Erde und wie sie nun im Frühling in alle Pflanzen einströmte, die kraftstrotzenden Knospen der aus der Erde drängenden Pflanzen, der steigende Saft in den Ästen. Wow!
Als sie einmal im Wald spazieren ging, verband sie sich auch dort wieder mit der Erde. Es brauchte immer eine kurze Zeit des Stillstehens, dann fuhr sie in ihrer Vorstellung wieder mit dem Aufzug nach unten zur Erdoberfläche.
Und immer stärker fühlte sie, wie es jenseits des Denkens und Schauens noch ein Schauen in ihr gab, das die Unsichtbaren Dinge sehen oder vielmehr fühlen konnte. Es fühlte sich ein bisschen wie ein Ball aus einem hellen, durchlässigen Kristall in ihr an, mit dem sie nach unten fahren konnte.
Und ihre Wirbelsäule sah sie innerlich wie eine stabile Säule aus strahlendem Licht. Der kristallklare Ball konnte an ihr nach unten fahren und dann war es, als hätte dieser Augen und sie könnte mit ihnen die Umgebung betrachten. Und dabei war ihr Kopf völlig still. Ja, sogar jeder Gedanke und alle Worte störten eher. Doch immer mehr konnte sie nach einem auftauchenden Gedanken wieder in die Stille und das innere Schauen wechseln.
Und es war ihr, als würde sie den Wald zum ersten Mal auf diese Art sehen: Das Grün der Moose und Gräser, die majestätischen Bäume, das Plätschern des Bächleins, die Spiegelungen der Tannen in der ruhigen Wasseroberfläche des kleinen Sees.
Leuchtend gelbe Schmetterlinge flatterten an ihr vorbei. Ein Vogel sang hoch oben in einem Wipfel eine Melodie mit solcher Inbrunst und Schönheit, dass es fast wie eine Arie klang.
Sie stand und lauschte. Alles war wie verzaubert. So viel Schönheit!
Die folgenden Tage begriff sie immer mehr, dass es ihr besser und besser ging, je mehr sie sich mit ihrem Körper und Mutter Erde verband.
Wenn ihr Körper müde war, legte sie sich hin und gab ihm die Ruhe, nach der er verlangte. Wenn er hungrig war, aß sie, nach was er verlangte.
Wurde es dunkel, ging sie bald ins Bett, und bei dem ersten Morgengrauen erwachte sie. Und immer war sie begleitet vom Singen der Vögel, das die Luft erfüllte – als sei die ganze Welt Klang, der sich durch ihre Kehlen verströmte.
Ach, was war das Leben so wunderschön!
Wie perfekt und wunderbar war doch unsere Mutter Erde!
Ja, und war ihr Körper nicht eigentlich auch das Kind dieser Mutter und daher auch Teil dieser Schönheit!? – Er wurde aus ihr geboren und wird eines Tages wieder in ihren Schoß zurückkehren.
Und dieses kristallklare Bewusstsein in ihr, mit dem sie so schön durch den Körper wandern konnte, würde für immer bleiben.
(c) Helga Fischer
Ältere Geschichten der Wandlung findest du hier:
Die Lichtweberinnen (vom 06.02.2021)
Die Entscheidung (vom 30.01.2021)
Himmel und Erde (vom 13.01.2021)
Gott (vom 18.07.2020)
Die Erde (vom 10.07.2020)